Zu Beginn ein Rätsel
Das war einmal eine herausfordernde Konstellation für den Prozessanwalt (mich):
Im Sommer 2022 erhielt meine Mandantin Post von der Swiss Life Select, dem Nachfolgevertrieb des AWD. Man bat sie höflich darum, doch bitte binnen dreier Wochen gut EUR 58.000,00 zu bezahlen. Über eine Ratenzahlung oder einen kleinen Nachlass könne man reden.
Grund der Forderung sei ein Versäumnisurteil aus dem Jahr 2007. Damals gab es den AWD noch, und dieser hatte das Urteil erwirkt.
Die Mandantin fiel allerdings aus allen Wolken. Von einem solchen Versäumnisurteil hatte sie bis zu diesem Schreiben niemals gehört! Und auf einmal aus dem Nichts heraus EUR 58.000,00 zahlen zu müssen, schockierte sie sehr – viele Leser*innen werden das nachvollziehen können.
Was war passiert? Da weder die Mandantin noch ich das wussten, schrieb ich an das zuständige Landgericht Hannover und bat um Einsicht in die Gerichtsakte.
Ein uraltes Urteil – es bleibt rätselhaft
Das Gericht teilte mir mit, dass die Akte wegen Zeitablaufs vernichtet war. Es gab nichts mehr darin außer das besagte Versäumnisurteil und den dazugehörigen Kostenfestsetzungsbeschluss. Auf diesen Dokumenten war vermerkt, dass sie an meine Mandantin im Jahr 2008 zugestellt worden seien.
Ansonsten aber war nichts in der Akte, so dass wir nicht erkennen konnten, warum der AWD überhaupt so viel Geld von meiner Mandantin haben wollte. Keine Klageschrift, keine Anlagen dazu, keine Zustellbestätigungen, keine gerichtlichen Verfügungen, nichts.
Da in einem Versäumnisurteil auch nicht steht, aus welchen Gründen es erlassen wurde und um welchen Tatbestand es überhaupt geht, waren wir so schlau wie zuvor, nämlich nicht sehr schlau.
Eines war allerdings auffällig: die Anschrift in dem Urteil war eine Anschrift in den Niederlanden, unter der meine Mandantin niemals gewohnt hatte! Und das passte ja auch dazu, dass die Mandantin mitteilte, von diesem Urteil nie etwas gehört zu haben.
Verteidigung gegen einen Schatten
Also blieb nichts übrig, als schnellstmöglich nach Vornahme der Akteneinsicht (und damit Bekanntgabe des Versäumnisurteils) Einspruch gegen dieses 15 Jahre alte Urteil einzulegen. Normalerweise beträgt die Einspruchsfrist 2 Wochen ab Zustellung des Urteils, bei Zustellung im Ausland etwas länger. Wird sie versäumt, so wird das Versäumnisurteil rechtskräftig. Ein Einspruch nach 15 Jahren – das ist also schon sehr ungewöhnlich und kommt in der Gerichtspraxis nicht häufig vor.
Die Begründung des Einspruchs war logisch: das Urteil war damals und bis dato nicht zugestellt worden, und deshalb hat die Einspruchsfrist noch überhaupt nicht begonnen. Um was für Ansprüche es gehe, wüssten wir nicht – sollte es welche gegeben haben, wären die jetzt schon lange verjährt. Denn auch eine Klage hatte die Mandantin ja nie erhalten.
Nun gibt es Zustellungsvorschriften in der ZPO. Und es dient der Rechtsklarheit und ist auch zu begrüßen, dass ein Dokument grundsätzlich als zugestellt gilt, wenn die Akte ein Zustellungsdokument als Beleg enthält. Der Gegenbeweis ist zwar möglich, aber in der Regel nicht leicht. Vereinfacht gesagt: wenn die Akte sagt, das Dokument sei zugestellt, dann ist es das auch.
Unsere Akte hier enthielt nun aber überhaupt nichts außer eben ausgerechnet dem Zustellungsvermerk auf dem Urteil.
Und so meinte das Gericht zunächst in der – zwischen allen Prozessbeteiligten durchaus angenehm verlaufenden – mündlichen Verhandlung, es müsse nun wohl wahrscheinlich geprüft werden, ob wir den Gegenbeweis erbringen können, dass eine Zustellung unter der Anschrift in den Niederlanden keinesfalls erfolgt sei. Dafür hatte ich Zeugen benannt, Schriftstücke und eidesstattliche Erklärungen vorgelegt usw.
Unterdessen hatte allerdings Swiss Life Select ihrerseits noch Unterlagen aufgefunden, die sich in deren Archiven befanden. Und diese Unterlagen zeigten Überraschendes: offenbar hatte das Landgericht damals eine falsche Zustellungsart gewählt!
Es hatte nämlich das Urteil einfach per Einschreiben/Rückschein in die Niederlande geschickt, und von dort kam es dann als „nicht abgeholt“ zurück.
Die direkte Zustellung per Einschreiben/Rückschein ins EU-Ausland war aber nach damaligem Zustellungsrecht gar keine zulässige Form der Zustellung. Das damalige EU-Zustellungsrecht sah diese Art der Zustellung schlichtweg nicht vor. Und dass meine Mandantin auch nicht zufällig von dem Urteil Kenntnis erlangt haben konnte, ergab sich schon daraus, dass das Urteil als „nicht abgeholt“ zurück kam. Kein Wunder, da meine Mandantin unter der Anschrift ja überhaupt nicht gewohnt hatte.
Die Mandantin wusste also nichts, konnte auch nichts wissen und musste auch nichts wissen. Das war hiermit erwiesen.
Happy End
Dies sah auch das Gericht so und erteilte nunmehr einen Hinweis, wonach die Zustellung damals nicht erfolgt und unser Einspruch gegen dieses in den Akten verstaubende Urteil deshalb fristgerecht erhoben worden sei.
Da sich ansonsten bekanntlich nichts mehr in der Akte befand und auch Swiss Life Select selbst nicht mehr sagen konnte, welchen Anspruch der AWD damals eigentlich geltend gemacht hatte, und da ich wie gesagt vorsorglich Verjährung eigewandt hatte, empfahl das Gericht der Swiss Life Select, die Klage zurückzunehmen.
So geschah es dann sinnvoller Weise auch, und meiner Mandantin fielen 58.000 Steine vom Herzen.
Neueste Kommentare